Prästrukturen und Praxis: Architektur Ausdehnen

The Dalton Brothers

Architektur wird mehr als alle anderen Kunstformen von sozialen, ökonomischen, technischen und physischen Strukturen beeinflusst, die außerhalb der Kontrolle der Architekten liegen. Sie sind die Matrix, innerhalb derer der Architekt arbeitet. Wir bezeichnen diese Strukturen als "Prästrukturen". Die Zwänge oder Möglichkeiten, die sie hervorbringen, sind manchmal offensichtlich, oft jedoch sehr subtiler Natur. In jedem Fall haben diese Prästrukturen großen Einfluss auf jedes Projekt. Der Unterschied zwischen gutem Design auf Papier und einem guten Gebäude wird oft dadurch bestimmt, wie der Architekt mit ihnen umgeht.

Beispiele sind im ökonomischen Bereich: Etats, Geschäftspläne, finanzielle Limits, die das eigene Engagement betreffen; im technischen Bereich ist es die Infrastruktur, die eine Aktion ermöglicht oder effizienter macht, wie zum Beispiel Hardware, Software, Werkzeuge. Schließlich würde man auch Raum, Zeit und die Gesetze der Physik als Prästrukturen bezeichnen, ebenso wie das Wissen und die Gedankenmuster, die unser Verhalten bestimmen, oder Gesetze und Organisationsformen, die Arbeit in verschiedenen Maßstäben ermöglichen. Ganz allgemein bestimmt Kommunikation die Qualität der Interaktion und die Möglichkeiten der Aktion.

Machinery

Diese Prästrukturen waren für Architekten schon immer problematisch. Trotz ihrer großen Auswirkungen auf die tägliche Arbeit gibt es wenig Diskussion über die Möglichkeiten der Einflussnahme. Diese Möglichkeiten sind aber tief in sämtliche Prozesse integriert und kommen oft auf einer persönlichen Ebene „hinter den Kulissen“ zum Tragen. Da diese Art von Einsicht für außenstehende Dritte schwer zu erlangen ist, konzentriert sich dieser Artikel auf die Idee des Designs der Prästrukturen innerhalb des Kontextes unseres Büros Deadline im Verlauf der letzten acht Jahre.

Wir unterscheiden nicht zwischen der Lösung von Designaufgaben und den Strategien, die notwendig sind, die zugrundeliegenden Prästrukturen zu überwinden. Dies bedeutet, dass wir neue Rollen übernehmen, die außerhalb der klassischen Architektentätigkeit liegen, um so unser Aktionsfeld aktiv zu erweitern. Die Ausdehnung unseres Berufs hat uns größere kreative Freiheit gegeben, als es konventionellere Herangehensweisen an Architektur ermöglichen.

Unsichtbare Arbeit

Work

Da die zugrundeliegenden Prästrukturen einen wesentlichen Anteil an dem Ergebnis eines Projektes haben, konzentrieren wir unsere Forschung zunächst darauf. Erst im zweiten Schritt setzen wir uns mit dem gewünschten Endprodukt auseinander. Wenn wir kreative Wege finden, mit den Prästrukturen umzugehen, entstehen daraus unerwartete und manchmal einzigartige Ergebnisse.

Während der 90er Jahre haben wir viele Experimente am Rande der Architekturproduktion gemacht. Um einen geeigneten Rahmen zu schaffen, haben wir 1997 zunächst mit mehreren Leuten “Urban Issue”, eine Art Galerie, gegründet, die es in dieser Form bis dahin in Berlin nicht gab. An diesem offenen Ort haben unsere Arbeiten größtenteils die Form einer Installation oder Präsentation angenommen.

Später wurden wir, um unsere gebauten Projekte Slender + Bender zu realisieren, zunächst Projektentwickler. Wir kauften ein Grundstück, entwickelten einen Geschäftsplan und verhandelten die Finanzierung mit Banken.

Die Annahme dieser Rolle gab uns unvergleichliche Flexibilität und einen Grad von kreativer Freiheit, der nur in seltenen Glücksfällen in einer herkömmlichen Kunden/Architekten-Beziehung erreicht werden kann.

Alle unsere Arbeiten in diversen Medien durchzieht ein konstantes Interesse an den Entwicklungen moderner Kommunikationstechnologien und deren direkten Auswirkungen auf die gebaute Umwelt. In vielen Projekten haben wir direkte oder indirekte Versuche mit diesen Technologien gemacht.

Technologie Experiment Nr. 1: Space Race (1999)

Space Race – eine Zusammenarbeit mit büro.genial – war eine Installation, die mit den räumlichen Beziehungen experimentierte, die durch moderne Kommunikationstechnologien neuerdings möglich geworden sind.

Space Race

Indem bestehendes Material (Autos) mithilfe von Kommunikationstechnologie (Zeitung, Radio, Fernsehen und Internet) kurzzeitig umgelenkt wurde, konnten wir innerhalb weniger Stunden eine riesige Struktur (400m x 5m x 2m) in einer verlassenen Bahnhofshalle in einem östlichen Industriegebiet Berlins konstruieren.

Space Race Parking Die Fahrer, die unserem Aufruf gefolgt waren, parkten ihre Fahrzeuge auf einer gefährlich schmalen (5m) Plattform. Bei Anbruch der Dämmerung schalteten alle Fahrer ihre Blinker an und ihre Radios auf volle Lautstärke, so dass die Leere mit Sound und Licht durchdrungen war.

Besucher spazierten entlang der Plattform und erlebten ein wellenartig bewegtes akustisches Feld, das die vielfältigen Radiostationen verströmten. Dieses Feld transformierte die undefinierte Länge der Halle in eine Abfolge von kleinen und großen auralen Räumen, optisch verschmolzen durch die blinkende und pulsierende Masse der Autos.

Die Prästruktur, die in SpaceRace voll ausgeschöpft wurde, war die Flexibilität und Zugänglichkeit von Kommunikationstechnologie. Diese allgegenwärtige Technologie ist eine der Hauptveränderungen in unserer Gesellschaft. Sie wird unsere gebaute Umwelt in den kommenden Dekaden mit zahlreichen subtilen prästrukturellen Effekten prägen.

Flexible Revolution

Die Informationsrevolution verändert unsere Gesellschaft heute in demselben Maß wie die industrielle Revolution vor zwei Jahrhunderten. Obwohl die Revolution alle Bereiche unseres Lebens berührt, kann sie die Architektur nicht der physischen Präsenz entziehen. Gebäude werden weiterhin mit Hammer und Nagel gebaut, sie existieren im physischen Raum und werden in ihm genutzt, sie bedienen dieselben menschlichen Bedürfnisse wie seit Tausenden von Jahren.

Space Race Parking Die heute meistdiskutierten prästrukturellen Veränderungen in der Architektur betreffen die neue Software, die es erleichtert, komplexe Geometrien zu beschreiben und zu bauen.

Eine der weniger offensichtlichen Verschiebungen ist die Art, wie wir heute unsere Städte benutzen. Neue Gebäudetypologien, neue Lebensstile und neue Produktionsmethoden bringen sehr langsame, aber umso deutlichere Gesichtsveränderungen hervor. Diese prästrukturellen Veränderungen können für Architekten neue Handlungsräume schaffen, indem sie neue Wege, neue Projekte und neue Sichtweisen aufdecken.

Technologie Experiment Nr. 2: Templace.com

Space Technology 1999 begannen wir, an templace.com zu arbeiten. Es ist ein Web-Werkzeug, das die temporäre Nutzung von städtischen Räumen erleichtert und ermutigt. Der Impuls für das Projekt entsprang eigener Erfahrung: Sechs Monate dauerten die Verhandlungen zur Anmietung eines leerstehenden Ladenraumes für „UrbanIssue“, einen experimentellen Ort, den wir mit einer Gruppe von Leuten von 1997–99 betrieben haben. Unverhältnismäßig viel Zeit und Energie floss in die Beschaffung eines geeigneten Raumes im Vergleich zu dem Zeitraum der tatsächlichen Nutzung.

Raum nach Bedarf

Space Technology Könnte die Zeit, die man braucht, um einen Raum zu finden, von sechs Monaten auf einige Stunden oder Tage reduziert werden, so bedeutet diese prästrukturelle Veränderung einen enormen Aktivitätsschub für die Stadt. Verlassene und vernachlässigte städtische Gebiete könnten leichter reaktiviert werden.

Templace.com könnte es ermöglichen, Räume in regelmäßigen Abständen zu nutzen. In innerstädtischen Gebieten, in denen Raum schwer zu finden ist, könnte dadurch größere Flexibilität erzeugt werden. Raum müsste nur für die Zeiten gemietet werden, in denen er genutzt wird: Mieter A nutzt einen Yogaraum montags und Mieter B nutzt denselben Raum freitags für einen Tanzkurs.

Wir haben das Web-System templace.com im Rahmen von „Urban Catalyst“, einem von der EU geförderten Forschungsprojekt, entwickelt. In seiner derzeitigen Version bietet templace.com temporären Nutzern kostenlose Datenbanksysteme an, auf deren Grundlage sie ihre Erfahrungen und ihr Wissen teilen können. Es bietet außerdem ein einfaches System für das Marketing und die Verwaltung von temporär genutzten Räumen. Das System steht weiterhin jedem zur Verfügung, der Interesse hat, dieses Experiment fortzuführen.

Gebautes Experiment Nr.2: Bender

SlenderBender Die besonderen Vorteile dieser Kommunikationswerkzeuge führten zu der Idee, die unser letztes Projekt Bender ermöglicht hat. Bender ist ein siebengeschossiges Gebäude in Berlin-Mitte mit acht Miniloft®-Apartments, die über das Internet an Kurzzeitbesucher vermietet werden. Die Studioapartments sind eine komfortable Alternative zu einem Hotelzimmer.

Als absehbar wurde, dass die Zeiten für Architekten härter werden würden, entschlossen wir uns, selbst zu Projektentwicklern zu werden. Nach zweijähriger intensiver Suche kauften wir ein schmales Grundstück an einer Hauptverkehrsstraße, am westlichen Rand des ehemaligen östlichen Zentrums.

Im vorderen Grundstücksbereich gab es eine überwucherte Kellerruine, im hinteren Bereich einen schmalen, viergeschossigen Seitenflügel mit acht Einzimmerwohnungen, der dringend sanierungsbedürftig war. Der Bau fand in zwei Phasen statt. Die Sanierung des Altbaus (Slender) begann 2001. Die zweite Phase, der Neubau (Bender), endete 2004. Das fertige Projekt ist eine komplexe Verflechtung von Neubau und Sanierung. Bender ist eindeutig zeitgemäß und bezieht sich auf seinen Kontext, ohne nostalgisch oder retrospektiv zu sein.

SlenderBender gehört zu einer neuen urbanen Gebäudetypologie, die eine lebendige Mischung diverser programmatischer Funktionen auf kleiner Fläche integriert. Das Projekt verbindet Kurzzeit-Minilofts®, Büroräume, einen Laden, Parkplätze und ein "Einfamilienhaus".

Der potentielle Ertrag aus den Minilofts® erlaubte es ,ein ehrgeiziges Gebäude auf einem so kleinen Grundstück zu realisieren, das die meisten Projektentwickler als unbebaubar bezeichnen würden.

Schönheit der Finanzen

Finanzielle Prästructuren Da Gebäude finanziell funktionieren müssen, ist es ein ebenso wichtiger Schritt, einen Geschäftsplan zu entwerfen, der genug Kapital abwirft, um das Gebäude zu finanzieren, wie eine einzigartig überzeugende architektonische Idee zu entwickeln.

Das Design des Gebäudes berücksichtigte viele verschiedene Aspekte, die alle zusammen funktionieren mussten. Das Scheitern nur eines Aspektes konnte leicht zum Zusammenbruch des gesamten Projektes führen. Da das Grundstück sehr klein und die Architektur ungewöhnlich war, waren die Baukosten bezogen auf die nutzbaren Quadratmeter sehr hoch. Diese Kosten wurden durch höhere Mieteinnahmen ausgeglichen, die durch das Kurzzeitapartmentkonzept generiert wurden. Dies wiederum wurde erst durch die flexible Revolution, in diesem Fall die Internetvermarktung, möglich.

Diese Finanzdesignfragen zu lösen war eine der Hauptaufgaben, die wir in unserer Doppelrolle als Architekten und Developer annahmen. Wir „entwarfen“ die ökonomischen Prästrukturen des Projektes, anstatt die finanziellen Begrenzungen, die das Projekt unterminiert hätten, einfach zu akzeptieren.

Fokus der Prioritäten

Soziale Prästructuren Durch die Bündelung von Auftraggeber und Architekt konnten wir das Projekt viel präziser und nachhaltiger fokussieren, als in einer herkömmlichen Kunden-Architekten-Beziehung. Wir schlossen das übliche Problem, dass die Qualität der Architektur dem finanziellen Programm des Kunden geopfert wird, aus. Natürlich konnten wir die finanziellen und rechtlichen Begrenzungen nicht ignorieren, aber wir konnten sie unserem Ziel, herausragende Architektur zu realisieren, unterordnen.

Über ein Jahr haben wir mit der Bauaufsicht verhandelt, um sechs Ausnahmen von der Berliner Bauordnung zu erwirken. Auf diese Weise haben wir die legalen Prästrukturen geschaffen, die notwendig waren, um SlenderBender so zu bauen, wie wir das Gebäude geplant hatten. Normalerweise hätten die meisten Auftraggeber den Architekten in einer solchen Situation gezwungen, das Design radikal den behördlichen Anforderungen anzupassen, um die hohen Kosten durch die Verzögerung zu vermeiden.

Geld spricht

SlenderBender Als wir anfingen, das Gebäude zu entwerfen, hatten wir uns ziemlich naiv vorgenommen, dass wir alle finanziellen Aspekte zweitrangig behandeln würden, um das zu bauen, was wir für das Beste hielten. Dies war eine unserer Richtlinien, die das gesamte Projekt durchzogen. Sie bedeutete eine Herausforderung im Umgang mit den finanziellen Rahmenbedingungen.

Banken wollen kein Risiko eingehen. Ihr finanzielles Engagement ist üblicherweise auf einen Anteil begrenzt (80 Prozent), der sich auf den niedrigstmöglichen Wiederverkaufswert des Besitzes bezieht – ein Wiederverkaufswert, der deutlich unter den marktüblichen Raten liegt. Dieser prästrukturelle Zwang macht es schwer, ein Gebäude zu finanzieren, das mehr kostet als die akzeptierten Durchschnittspreise, die die Banker für ihre Wertschätzungen benutzen.

Unerwartete, sich verändernde ökonomische Zwänge sind eine nicht zu ignorierende Prästruktur. Während der Bauzeit von SlenderBender waren wir von diversen ökonomischen Krisen betroffen, die alle zu einem desaströsen Ende der ganzen Unternehmung hätten führen können. Das ganze Projekt hindurch war es eine unserer schwierigsten Aufgaben, Wege zu finden, um die immer neuen finanziellen Probleme kreativ zu lösen.

Ausdehnung des Aktionsfeldes

SlenderBender Der prästrukturelle Rahmen ist ein essentieller Teil jedes architektonischen Projektes. Er ist mehr als ein Ausgangspunkt oder eine Aufgabenstellung und er ist in alle Prozesse integriert, die das gesamte Projekt betreffen.

Bis heute ist der Einfluss der Prästrukturen auf Architektur weitgehend außerhalb des architektonischen Diskurses geblieben. Indem die Berücksichtigung der prästrukturellen Faktoren ein integraler Teil des Designprozesses wird, können Architekten ihren Aktionsradius erweitern und ihre Chancen erhöhen, herausfordernde Projekte zu realisieren.


Dieser Artikel wurde erstmalig im Oktober 2005 mit dem Titel Architektur Ausdehnen in Architektur Rausch (Jovis Verlag) veröffentlicht.

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